SILENT CINEMA – STAATSGALERIE STUTTGART
Mireille Kassar: The Children of Uzaï, Antinarcissus – 4.8. – 30.08.2015 VIDEO-BOX
Stuttgart liegt in Süddeutschland, weit weg vom Meer.
700 km von der Nordsee, 700 km von der Adria, 900 km vom Atlantik und ca. 3500 km vom Strand Uzaï im Süden Beiruts im Libanon.
Wie kann ich die Teilnehmerinnen am Kunstgespräch für Frauen hinführen zum Film von Mireille Kassar „The Children of Uzaï, Antinarcissus“, 2013 gedreht am Strand von Uzaï, der noch bis zum 30.08.2015 in der VIDEOBOX der Staatsgalerie Stuttgart gezeigt wird?
Es war sehr heiß in diesen Augusttagen in Stuttgart. Ungewöhnlich heiß für unsere Verhältnisse. Ich erfreute mich an den Bildern der halbwüchsigen Jungen, die am Meer und mit dem Meer spielten. Sie stürzten sich immer wieder in die Wellen, die kamen und gingen. Das Meer. Wie schön wäre es, am Meer zu leben! Das Meer ist weit weg.
Welche Bilder vom Meer gibt es in unserem Museum, der Staatsgalerie Stuttgart? Ich machte mich auf die Suche. Ich fand 2 Gemälde aus dem 19. Jahrhundert und 2 Gemälde aus dem 20. Jahrhundert. In ihren Anmerkungen „about the filmmaking“ auf der website des Films antinarcissus.com schreibt die Künstlerin, dass sie sich vorstellen kann, den Film auch als Teil einer Installation zu zeigen. Also entschließe ich mich für das Kunstgespräch, den Film mit 4 Gemälden in Beziehung zu setzen.
BILDER VOM MEER
Gustave Courbet (1819-1877), Meeresküste mit Segelboot bei aufziehendem Gewitter, um 1869
Courbet gehörte zu den ersten Künstlern, die Mitte des 19. Jahrhunderts die Malerei in Paris revolutionierten. Realismus war seine Idee! Weg von den großen historischen Themen, hin zur Beobachtung der Lebenswelt, auch der einfachen Leute. Oft hat er das Meer beobachtet. Das Gemälde ist in zwei horizontale Streifen unterteilt, das Meer und der Himmel. Das Meer nimmt weniger als ein Drittel des Bildes ein. Schaut man genau hin, sieht man den trockenen Sand am unteren Bildrand, dann eine Nuance dunkler der durch die Wellen feuchtgewordene Sand. Bis zur Horizontlinie folgen bildparallel zunächst die sich leicht kräuselnden Wellen, die sich an den Strand werfen und wieder zurückweichen mit leichten hellen Schaumkronen, dann die unruhige, bewegte Wasseroberfläche in der Ferne. Ein kleines Segelschiff mit aufgeblähtem Segel. Gewaltig, bedrohlich die düsteren Wolkenberge, von links nach rechts ziehend, aufsteigend. Gleich kommt ein Gewitter. Kein Licht, keine Sonne ist zu sehen.
Courbet spachtelte die Farbe mit dem Palettmesser direkt auf die Leinwand und erzeugte damit eine pastose Bildoberfläche.
Claude Monet (1840-1926), Das Meer bei Fécamp, 1881
Im selben Raum, an der selben Wand hängt das Bild von Claude Monet. Nur 12 Jahre später entstanden, doch ganz anders. Das Bild ist voller Licht, obwohl der Himmel verhangen ist.
Die Wellen klatschen an die Felsen, sie brechen sich, sie überschlagen sich, Schaumkronen tanzen auf dem Wasser. Die Felsen rhythmisieren das Bild vertikal. Sie sind in viele helle Farbstriche aufgelöst, sind immateriell geworden, vom Licht erfüllt, doch bespritzt von der Gischt und überspült vom Wasser, das kommt und geht und wieder kommt. Monet hat die Bewegung eingefangen und das Licht. Ich meine, das grollende Geräusch der brechenden Wellen zu hören, Wasserspritzer auf meiner von der Augustsonne erhitzten Haut zu spüren.
Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938), Ins Meer Schreitende, 1912
Ernst Ludwig Kirchner wählte ein größeres Format, aber weniger Farben. Violett, grün, ocker – ein merkwürdiger, kontrastreicher, dissonanter Farbklang. Er unterteilte das Bild in zwei Dreiecke (Meer – Strand) und einen Streifen Himmel. Links: Ein Mann und eine Frau schreiten staksig ins Wasser, den Wellenbögen entgegen. Halten sie sich an der Hand? Der Mann schaut voraus und geht voraus, die Frau blickt auf ihre Schritte, vorsichtig. Beide sind nackt. Auch die dritte Person im Bild: am Sandstrand liegt eine zweite Frau auf dem Bauch, den Kopf in die Hand gestützt. Darüber Sanddünen und ein dunkler, violetter Himmel. Zügig hingeworfene Farben, hektische Striche. Eine spannungsvolle Komposition, wie das Leben Kirchners zwischen zwei Frauen damals in Berlin kurz vor dem Ersten Weltkrieg.
Emil Nolde, (1880-1938), Ruhiges Meer, 1936
Ganz dunkel ist das Gemälde „Ruhiges Meer“ von Emil Nolde, 1936 entstanden. Ein Nachthimmel voller Wolken. Mondschein, der sich gelb auf dem grünen Meer spiegelt. Das Bild strahlt Ruhe aus, sagen manche Frauen. Ich finde das Bild bedrohlich. Vielleicht weil ich weiß, dass es im nationalsozialistischen Deutschland an der Nordsee entstanden ist. Ein Jahr später war auch Nolde betroffen von der Aktion „Entartete Kunst“.
Die Bilder und weitere Informationen finden Sie im ONLINEKATALOG der Staatsgalerie Stuttgart.
SILENT CINEMA
Mireille Kassar: The Children of Uzaï, Antinarcissus, 2014
HD-Video, Farbe, ohne Ton, 16′
Nun bin ich gespannt, wie die Frauen auf den Film „The Children of Uzaï, Antinarcissus“ reagieren werden. 16 Minuten Stille. Silent Cinema. Nur Bilder. Stille Bilder. Bewegte Bilder vom Meer, das kommt und geht. Vom Licht, das sich im Wasser und in den Wellen bricht. Horizontale Streifen, Schaumkronen, Gischt, Lichtstrukturen im Wasser und Sand. Kinder, die mit dem Wasser spielen und miteinander. Sie sind mutig und verletzlich. Sie helfen einander, sie achten aufeinander, sie sind kraftvoll und nicht narzisstisch. Sie suchen nicht das Spiegelbild, in das sie eintauchen und sich verlieren können. Sie wollen sich spüren, sie riskieren die Gefahr und suchen das Leben in den Wellen.
Die Künstlerin Mireille Kassar (geboren 1963 in Zahlé, Bekaa, Libanon) ist die Beobachterin dieser Szene am Strand von Uzaï. Gelegentlich zieht ein vertikaler, schwarzer Balken durch das Filmbild. Es ist der Pfeiler, hinter dem sie sich versteckt, um die Jungen ungestört bei ihrem Spiel mit dem Wasser zu beobachten und nicht abzulenken. Manchmal löst sie sich von den spielenden Kindern, dreht die Kamera, lässt das Wasser nach oben fließen, hält die Wellen fest in Bildern, die stehen, lässt die Sonne tanzen, lässt es Nacht werden.
Die Künstlerin gestaltet ihr Bild vom Meer, so wie Courbet, Monet, Kirchner oder Nolde ihre Bilder gestaltet haben. Sie hat spontan die Szene am Strand beobachtet, doch lange den Film nachbearbeitet und geschnitten. Eigentlich ist sie Malerin, so hat sie mir erzählt.
Ich freue mich sehr, dass ich Mireille Kassar in der Staatsgalerie Stuttgart treffen konnte. Sie war vorher noch nie in unserem Museum, hat die Gemälde, die hier hängen, vorher nie im Original gesehen. Doch ich finde viel von den Bildern vom Meer wieder im Film von Mireille Kassar.
Den Rhythmus der Wellen von Gustave Courbet, die Gischt und das Licht von Claude Monet, die Farben und die Spannung von Ernst Ludwig Kirchner, die überraschende Dunkelheit von Emil Nolde.
TEXTE VOM MEER
Bei meiner Annäherung zum Thema „Meer“ bin ich auch auf Texte vom Meer und auf Albert Camus (1913-1960) gestossen.
Im Dezember 1959, wenige Tage vor seinem Unfalltod, schrieb er in sein Tagebuch:
„Das Meer, eine Gottheit.
Auf der Ur-Erde regnete es jahrhundertelang ununterbrochen. Das Leben ist im Meer entstanden, und während der ganzen unvordenklichen Zeiten, die von der ersten Zelle zum organisierten Lebewesen ins Meer führten, war der Kontinent jeglichen tierischen und oder pflanzlichen Lebens bar, ein steinernes Land, nur vom Rauschen des Regens und des Winds erfüllt, in einem gewaltigen Schweigen, in dem nichts sich regte außer dem raschen Schatten der großen Wolken und dem Lauf der Gewässer zu den Becken der Ozeane … Das Festland ist letzten Endes nur eine sehr dünne Platte auf dem Meer. Eines Tages wird der Ozean herrschen. Es gibt Wogen, die uns vom Kap Horn ausgehend nach einer Reise von zehntausend Kilometern erreichen …“
Albert Camus, Tagebücher 1951-1958, Deutsche Übersetzung von Guido G. Meister. Reinbek bei Hamburg, 1991. S. 346f
Das Meer ist Spiel, das Meer ist Hoffnung. Das Meer ist Anfang und Ende, Leben und Tod.
Kennen Sie die Geschichten von Herrn Palomar, fragte mich Frau G.
Nein, sagte ich. Dann schicke ich sie Ihnen.
„Herr Palomar“ ist Italo Calvinos letztes Werk.
„Herr Palomar steht am Ufer und betrachtet eine Welle. Nicht, dass er sinnend in die Betrachtung der Wellen versunken wäre. Er ist nicht versunken, denn er weiß, was er tut: Er will eine Welle betrachten, und er betrachtet sie. Er ist auch nicht sinnend, denn zur Besinnlichkeit braucht man ein passendes Temperament, eine passende Stimmungslage und ein Zusammenwirken passender äußerer Umstände, und obwohl Herr Palomar im Grunde nichts gegen Besinnlichkeit hat, ist im Augenblick keine dieser Bedingungen für ihn gegeben. Schließlich sind es auch nicht „die Wellen“, was er betrachten will, sondern nur eine einzelne Welle und weiter nichts. Im Bestreben, die vagen Gefühle nach Möglichkeit zu vermeiden, nimmt er sich für jede seiner Handlungen einen begrenzten und klar umrissenen Gegenstand vor. … Ist dies womöglich das wahre Ergebnis, zu dem Herr Palomar gerade gelangt: die Wellen in Gegenrichtung laufen zu lassen, die Zeit umzukehren, die wahre Substanz der Welt jenseits der üblichen Sinnes- und Denkgewohnheiten zu erkennen? Nein, er gelangt nur bis zur Empfindung eines leichten Schwindelgefühls, nicht weiter. … Nur, wenn es ihm gelingt, alle Aspekte gleichermaßen im Blick zu behalten, kann er die zweite Phase seiner Operation in Angriff nehmen: die Ausweitung dieser Erkenntnis auf das ganze Universum. …“
Italo Calvino, Herr Palomar, Deutsche Übersetzung von Burkhart Kroeber, München 1985, S. 7f
Italo Calvino (1923-1985) beschreibt den Versuch seines Protagonisten Herr Palomar, eine Welle zu lesen. Herr Palomar verliert die Geduld und „geht weiter den Strand entlang, nervös wie zuvor und noch ungewisser in allem.“
Herr Palomar geht weiter und verpasst die Erkenntnis.
Doch Mireille Kassar hat es geschafft, mit ihrem Film, die Zeit rückwärts laufen zu lassen, damit ich die Motive und Farben erkennen kann, die Courbet, Monet, Kirchner und Nolde gewählt hatten und die Zeit anzuhalten, damit ich eintauchen kann in die Bilder vom Meer und Leben und mich spüren kann, wie die Kinder von Uzaï.
Danke Mireille.
Danke für die Ermutigung, diesen Text zu schreiben.
Der Film „The Children of Uzaï, Antinarcissus“ von Mireille Kassar ist noch bis Sonntag, 30.08.2015 in der Staatsgalerie Stuttgart zu sehen.
You can find the text translated in english here: SILENT CINEMA Mireille Kassar
Die Reihe SILENT CINEMA wird fortgesetzt. Die Staatsgalerie Stuttgart zeigt in monatlichem Wechsel ausgewählte Filme und Videos von internationalen jüngeren wie etablierten Künstlern, die dokumentarisch, experimentell, essayistisch oder narrativ arbeiten und ohne Ton auskommen.
Staatsgalerie Stuttgart
Konrad-Adenauer-Str. 30-32
D-70173 Stuttgart
Tel. 0711 . 470 40 250
und 0711 . 470 40 228
info@staatsgalerie.de
Das Kunstgespräch für Frauen findet zwei Mal im Monat statt, jeweils am 1. und 3. Donnerstag im Monat um 10.30 Uhr und um 15.30 Uhr, sowie am darauffolgenden Freitag um 10.30 Uhr. Dauer 90 Minuten. Treffpunkt Foyer Neue Staatsgalerie.
Meine Termine für Kunstgespräche in der Staatsgalerie finden Sie hier.
Übrigens:
Ich habe auch über den Film „Hyde Park“ von Margaret Salmon gebloggt, der im Februar in der Reihe SILENT CINEMA in der Staatsgalerie gezeigt wurde: a poem for Margaret Salmon
Ein Gedanke zu “Mireille Kassar: The Children of Uzaï”