Seit vielen Jahren mache ich Stadtführungen in Stuttgart. Doch es gibt immer noch unbekannte, überraschende Orte für mich. Solch einen Ort habe ich am Sonntagmittag entdeckt. Ich war im alten Rosenstein-Eisenbahntunnel. Hermann Gökeler hat mich dazu eingeladen. Er stammt aus einer Eisenbahnerfamilie und interessiert sich sehr für die Geschichte der Eisenbahn in Württemberg und Stuttgart, besonders für den faszinierenden alten Rosensteintunnel. Eigentlich wollte er nur zwei Führungen für Interessierte anbieten, aber die Nachfrage war sehr groß. Jetzt gibt es einige Termine. „Solange es noch möglich ist“, sagt Hermann Gökeler. Denn in der Nachbarschaft des Tunnels gibt es zwei Großbaustellen. Unter dem Rosensteinpark und unter Teilen des Zoologisch-Botanischen Gartens Wilhelma wird aktuell der 1300 m lange B10-Rosenstein-Autotunnel gebaut und für das Bahnprojekt S21 soll ein Tunnel Bad Cannstatt gebaut werden.
Treffpunkt für die Führung ist das Schloss Rosenstein. Hermann Gökeler erzählt über das Schloss und den Park und die Anfänge der Eisenbahn in Württemberg.
Das Schloss Rosenstein wurde 1824 bis 1829 im Auftrag von König Wilhelm I. als Landschloss auf dem Kahlenstein vom italienischen Architekten Giovanni Salucci (1769-1845) im klassizistischen Stil erbaut. Zeitgleich mit den Bauarbeiten am Schloss wurde mit der Anlage des Rosensteinparks begonnen durch den königlichen Oberhofgärtner Johann Wilhelm Bosch (1782-1861). König Wilhelm I. hatte sich schon zu Beginn der Planungsarbeiten des Rosensteinparks an zwei englische Gartenarchitekten gewandt. Pläne für die Parkanlage von John Buonarotti Papworth (1775-1847) gelangten nach Stuttgart. Der Rosensteinpark sollte als klassischer Landschaftsgarten gestaltet werden.
1844 bis 1846 wurde unter der Mittelachse des Schlosses der Rosensteintunnel gebaut für die württembergische Centralbahn. Es war der erste Eisenbahntunnel Württembergs.
„Zwischa Stuttgart ond Cannstatt, doa isch a Tunnel,
wenn mr neifahrt wird’s donkel, wenn mr nausfahrt wird’s hell.
Holladihi holladiho, holladihopsasa, s’isch halt mal so.“
Hermann Gökeler hat den Schlüssel zum Rosensteintunnel. Jetzt wird’s spannend. Was ist dahinter?
Der Eisenbahntunnel wurde von Carl von Etzel (1812-1865) zweigleisig geplant und in den Jahren 1844 bis 1846 in bergmännischer Bauweise gebaut. Bis zur Eröffnung der neuen Tunnelröhren im Jahr 1915 wurde der Tunnel für den Eisenbahnverkehr zwischen Stuttgart und Cannstatt genutzt. 1915 wurde die Tunnelröhre stillgelegt. Die Gleise wurden entfernt.
Nach der Stilllegung wurde der Tunnel viele Jahre lang zur Champignonzucht genutzt. Im zweiten Weltkrieg diente er als Luftschutzbunker, ob er während des Krieges auch zur Produktion genutzt wurde, ist umstritten.
Ein Zeitzeugenbericht über die Nutzung als Luftschutzbunker
In einem Brief an Hermann Gökeler berichtet Inge Elvers von ihren Erlebnissen im Rosensteintunnel während der Luftangriffe auf Stuttgart im 2. Weltkrieg. Sie war damals 10 Jahre alt.
“ … Meine Familie wohnte damals in der Pragstraße gegenüber dem Wilhelmatheater. … Wir hatten eigentlich einen guten Keller bei Fliegerangriffen, aber manchmal, je nach „Vorahnung“ gingen wir in den alten Bahntunnel. Das war ein Geheimtip, auch ziemlich weit (ca. 500 m). Eine Bedienstete der Wilhelmagaststätte, damals Essensausgabestelle für Kriegsgefangene, die in den Fabriken an der Pragstrasse arbeiten mussten, hatte meinen Eltern diesen „Bunker“ gezeigt. An der Pragstr. befanden sich „kriegswichtige“ Firmen: Fortuna, SKF Kugellager, Eckardt, Elektron, Mahle, die alle Ersatz für ihre eingezogenen Mitarbeiter bekamen: gefangene Franzosen oder auch Russen, auch Frauen. Diese Gefangenen durften eigentlich nicht in Bunker. Aber so ein halbgeheimer Tunnel war ein idealer Bunker, dass diese Menschen auch geschützt wurden. In den Hochbunker rechts der Rosensteinbrücke kam man nicht so leicht, seit die Brücke im Sommer 1944 zerbombt war.
Der Weg zum Tunnel, vorbei am Wilhelmatheater, Eingang zur Wilhelma, vorbei an den steinernen Wachhäuschen an der Einfahrt zum Wilhelmaparkhaus, damals Eingang zum Rosensteinpark, dann die letzte Hürde, die Steintreppe zum Tunnel hoch. Am Anfang des Tunnels waren Wände gegen den Luftdruck eingezogen, versetzt, mal linksbündig, mal rechtsbündig, dann wieder linksbündig usw. Wie viele Schutzwände es waren, kann ich nicht mehr sagen. Der Boden im Tunnel war nass, dreckig und im Dunkeln ‚huppelig‘. Licht gab es nicht. Die meisten Schutzsuchenden hatten Taschenlampen. Damit bei Panik niemand totgetrampelt würde, waren Schutzleute eingeteilt, die beruhigend auf die Menschen einwirken sollten.
An einen schlimmen Angriff im Oktober 44 kann ich mich noch erinnern als wäre es gestern gewesen. Die ersten ‚Christbäume‘, Zielbefeuerung für die Bomber, wurden gesetzt als wir am „Bellevue-Tor“ waren (am heutigen Eingang zum Parkhaus der Wilhelma). Als wir die Treppe hoch hasteten, fielen die ersten Bomben im Rosenstein und auf dem Insele (heute vor dem Anlageplatz des Neckarkäptn). Männer zogen uns hinter die ersten Schutzmauern. Dann begann das Inferno! Als es nicht mehr weiterging, weil in dieser Nacht viele Menschen Schutz suchten, hat man sich auf den Koffer gesetzt. Da war eine Stimme, die hat dauernd getönt: hier braucht ihr keine Angst haben, wir sind direkt unter dem Schloss, da kommt keine Bombe durch, wir sind hier sicher. Die Menschen haben geweint, hauptsächlich die Kinder. Das waren Minuten, bei denen Frontsoldaten auf Heimaturlaub sagten, an der Front könnten sie sich wenigstens wehren. Eine Bombe ist genau neben dem Tunneleingang eingeschlagen. Da hat der ganze Rosensteinpark gewackelt. Eine junge Mutter aus der Hallstrasse hat es nicht mehr in den Tunnel gereicht, sie ist am Bellevue-Tor in einem der beiden Steinhäuschen untergestanden. Nach Ende des Angriffs hat man sie unter dem Steindach rausgeholt, samt zerquetschtem Kinderwagen und Baby. In dieser Nacht ist die Wilhelmagaststätte mit ihrem Speisesaal abgebrannt. Brennende Balkenteile hat der Feuersturm uns Heimkehrenden entgegengeweht.
Von weitem glaubten wir, das Vorderhaus in der Pragstraße würde auch brennen, weil in den nicht zerbrochenen Fensterscheiben das Feuer von gegenüber sich spiegelte. Die Stadt war ohne Strom und nach etwa einer Stunde waren Flakschüsse zu hören, als Zeichen eines erneuten Fliegerangriffs. Bis man sich einig war im Haus, Alarm oder nicht Alarm, war es zu spät für den Tunnel. …
Das Wasser an der Tunneldecke kann auch vom kleinen See hinter dem Schloss stammen. Rüstungsproduktion war im Tunnel bestimmt nicht, höchstens etwas gelagert im hinteren Teil. … „
Brief von Inge Elvers an Hermann Gökeler, 15.09.2010.
Es soll hier auch eine besondere Art von kleinen Flusskrebsen leben, leider haben wir bei der Besichtigung keinen entdeckt. Aber es gibt auch Spuren menschlichen Lebens unserer Zeit. Leere Konservendosen, Müll, eine vergessene Herrenjacke an einem Kleiderbügel.
Wie ist der Graffiti-Künstler in den Tunnel gekommen, um das Wandbild zu machen?
Es ist gar nicht so kalt im Rosensteintunnel. Doch mir fehlt das Tageslicht. Deshalb bin ich froh, dass ich nach der interessanten Besichtigung wieder hinaus kann.
1912 bis 1914 wurden in offener Bauweise zwei neue Tunnelröhren jeweils zweigleisig gebaut. Bis heute werden diese Tunnelröhren für den Fernverkehr und den Regionalverkehr sowie die S-Bahn-Linien benutzt.
Über den neuen Tunnelröhren wurde in den 1920er Jahren der Rosengarten angelegt.
Buchtipps:
Im Stadtarchiv Stuttgart wurde 2012, anläßlich des 200. Geburtstags von Carl von Etzel eine Ausstellung über den Eisenbahningenieur und Architekten gezeigt. Der Ausstellungskatalog Carl von Etzel und die Anfänge der Eisenbahn in Württemberg. Dokumentation der Ausstellung des Stadtarchivs Stuttgart zum 200. Geburtstag des Eisenbahnpioniers ist noch zu haben.
Der Stuttgarter Verein Schutzbauten Stuttgart e.V. hat ein kleines Büchlein herausgegeben, in dem über den Rosensteintunnel und seine Nutzung als Luftschutzbunker berichtet wird: Wege durch die Stuttgarter Vergangenheit (1933-1947): Stadtspaziergänge mit dem Verein Schutzbauten Stuttgart
Hermann Gökeler empfiehlt das Buch „Geschichten aus Stuttgart“ herausgegeben von Irene Ferchl. Darin findet sich die Geschichte einer Butterfrau aus dem Remstal verfasst von Anna Schieber (1867-1945), die zur Taufe ihres Enkelkinds zum ersten Mal mit der Eisenbahn nach Stuttgart fährt. Niemand hatte ihr vom Tunnel erzählt, sie glaubt, sie sei in die Hölle geraten:
„… Kaum hatte der Zug in Cannstatt den Bahnhof verlassen und die Brücke über den Neckar, so fuhr er mit einem überlauten, ja höllischen Pfiff in ein dunkles Loch hinein. Schaurig widerhallte an engen Wänden das Rollen der Räder, und dicker Rauch drang zu den nicht verschlossenen Fenstern in den Wagen ein: ein Qualm, der nicht anders zu deuten war samt allem andern, als dass es eiligen Laufes in die Hölle ging mit der Bogerin …
Führungen:
Einen Schlüssel für den Rosensteintunnel habe ich nicht. Wie lange Hermann Gökeler noch Führungen im Rosensteintunnel anbieten kann, ist nicht zu sagen. Bei Interesse nehmen Sie Kontakt mit ihm auf.
Führungen zur Stadtgeschichte Stuttgarts, zur Eisenbahngeschichte und zur Entstehung der Stuttgarter Parkanlagen, können Sie auch bei mir buchen. Nehmen Sie Kontakt mit mir auf und stöbern Sie unter der Rubrik „Stadtspaziergänge“. Über meine letzte Führung im Mittleren Schlossgarten habe ich gebloggt.
(Rosensteintunnel (Eisenbahn))
Sehr geehrte Frau Welz,
ich bin per Twitter auf Sie und Ihre Seite aufmerksam geworden.
Ein „Abordnung“ von uns war auch schon bei der Besichtigung dieses einmaligen technischen Kulturschatzes dabei und ich habe viele Eindrücke wiedererkannt.
Vielen Dank für diesen tollen und umfassenden Bericht.
MfG
Andreas Eder (Ingenieure22)
Lieber Herr Eder,
vielen Dank für Ihr Interesse an meinem Bericht über die Führung im Rosensteintunnel mit Hermann Gökeler. Kennen Sie auch meine anderen Stuttgart-Geschichten? z.B. über die letzte Parkführung im Mittleren Schlossgarten. Hier der Link dazu: https://kunstundreisen.com/2014/03/die-letzte-parkfuhrung-im-mittleren-schlossgarten-stuttgart/
Da sehen Sie mich auch in Aktion!
Herzliche Grüsse, Andrea Welz