Du-u, ich würd gerne mitmachen bei der Blogparade von Anett Ring #Raumgefühl … Architektur denken!
Raumgefühl? Das löst bei mir einen Schauder aus.
Warum denn das? Einen Schauder?
Du musst erst das Werkzeug lernen, erst die Grundelemente der Architektur kennen!
Was ist eine Linie? Was ist eine Ecke? Was ist ein Kreis?
Du musst deine Architektur begründen können, aber nicht mit deinem Gefühl!
Raumgefühl? Das erinnert mich an unsere Diskussionen an der Kunstakademie …
In den 1980er Jahren wurde ein junger Wiener Architekt als Gastprofessor an die Kunstakademie in Stuttgart eingeladen. Ein Semester hat er Architektur gelehrt. Er sollte den Studenten die Herangehensweise an das Entwerfen der Wiener Architektenschule um Hans Hollein vermitteln. Wie hat er das gemacht?
Er ist so vorgegangen:
Er stellte den Studenten die Aufgabe, sie sollten einen Raum entwickeln. Jeder Student sollte sich ein literarisches Werk auswählen. Da manche Studenten wenig literarisch gebildet waren, hat er eine Liste gemacht mit Vorschlägen interessanter Literatur. Kafka, das Schloss war dabei. Auch Fontane, Effi Briest. Vielleicht auch Onkel Toms Hütte, ich weiß nicht mehr genau. Jeder musste sich ein Werk aussuchen. Lesen natürlich. Beim Lesen entsteht ein Raum in dir …
Diesen Raum mussten die Studenten bauen, ein Modell. Sie mussten die entscheidende Textpassage vorlesen. Dann hat man gemeinsam den gebauten Raum betrachtet.
Schon die Aufgabenstellung war „wienerisch“. Morbid. Sigmund Freud. Psychoanalyse.
Bis dahin hatte noch nie ein Professor in Stuttgart gesagt, lest ein Buch und baut dann den Raum.
Der imaginäre Raum sollte zum realen Raum werden? Ja, so könnte man das sagen.
Die Wiener Architekten haben der Inszenierung des Raumes große Bedeutung beigemessen.
Der Wagner, wie hieß er gleich? Otto Wagner, der hat Anfang des 20. Jahrhunderts in Wien die Postsparkasse gebaut.

In der Postsparkasse gab es natürlich die große Schalterhalle.
Diese Schalterhalle wurde zur Ikone der Wiener Architektur ab den 1970er Jahren.
Auf diese Schalterhalle haben alle wichtigen Architekten zurückgegriffen …
Warum? frage ich.

Hans Hollein (1934-2014) hat sich die Wagner-Decke abgeguckt für das Österreichische Verkehrsbüro, das er in den 1970er Jahren am Stephansplatz gebaut hat. Hollein hat Wagner zitiert. Er hat auch die Stützen von Otto Wagner reingesetzt. Otto Wagner war sachlich. Hollein hat Palmen aus den Stützen gemacht. Die Palmen hat er gesehen im Royal Pavillon in Brighton (1815-1818).
Adolf Loos sagte während der Zeit von Otto Wagner: Ornament ist Verbrechen.
Jetzt gehen die „Raumgefühler“ der Postmoderne her und setzen auf die Säule Palmwedel aus Messingblech, die runterhängen.


Damit ist der Hollein berühmt geworden und mit dem Juweliergeschäft Schullin I am Graben und dem Kerzenladen Retti.

Diese beiden Geschäfte waren winzig klein. Die Geschäfte leben nur vom Raum. Hollein hat das Innere des Ladens, die Inszenieurung des Innenraums nach außen sichtbar gemacht. Nicht nur durch ein Schaufenster. Bei dem Juwelier Schullin drücken lauter Messingrohre von innen nach außen. Sie sprengen den Marmor. Fließender Messing läuft über die Glastür weg. Die Fassade ist wie ein Schmuckstück.
Hollein hat die Inszenierung der Ware durch Architektur vorweggenommen.

Das Kerzengeschäft Retti war Holleins erster unabhängig ausgeführter Auftrag (1965/1966). Der Innenraum war nur vierzehn Quadratmeter groß und mit Aluminium und Spiegeln wie eine „Metallschachtel“ für die Kerzen gestaltet.

Jetzt schließt sich der Kreis.
Jetzt weißt du, warum man den Wiener Architekt, der in den 1970er Jahren bei Hollein mitgearbeitet hatte, nach Stuttgart geholt hat.
Weil die Wiener die Emotionen der Kunden erfasst haben … Die Fassaden haben etwas ausgelöst. Goldene Palmen draußen auf der Straße, die Kunden sind rein, um die Reise zu buchen …
Das hat uns damals alle fasziniert.
Man wollte dahinter kommen, warum die Wiener weltweit so viel Erfolg hatten …
Charles Wilp. Afri Cola. Er sollte den Verkauf von Afri Cola fördern im Vergleich zu Coca Cola. Das ist ihm gelungen. 1968 erfand er die Kampagne „Sexy-mini-super-flower-pop-op-cola – alles ist in Afri-Cola“.
Afri Cola Rausch. Mädchen bewegten sich lasziv hinter einer Glasscheibe, über die Wasser lief.
Was hat das mit Architektur zu tun?
Es ging ums Gefühl.
Je t’aime … moi non plus. 1969. Serge Gainsbourg. Konsum. Rausch. Tabubruch.
Die Innenarchitektur sollte den Konsum fördern.
Das werf ich dem Hollein heute vor. Es ging um Schmuckstückchen … unpolititsch.
Deshalb reagier ich so allergisch auf den Begriff Raumgefühl.

Ich hab die frühen Texte gelesen von Hollein, die er als junger Mann geschrieben hat. Das war spannend, da hatte er Utopien! Er hat eine Stadt in einem Flugzeugträger entworfen und in die Landschaft gestellt. Manifest.
„Architektur ist elementar, sinnlich, primitiv, brutal, schrecklich, gewaltig, herrschend.“
HANS HOLLEIN Architektur 1963
Das hat dann COOP Himmelblau interessiert. Damals hießen sie noch Himmelblau. Mit dem ersten Projekt, das sie gebaut haben, haben sie aus Himmelblau Himmelb(l)au gemacht. Neue Methoden: Mit Zigarettenkippen und Kerzen das Blatt anbrennen und gucken, was dann passiert.
Als ich in Wien bei COOP Himmelb(l)au gearbeitet habe, bin ich durch die Nachtlokale gezogen. Das waren irre Räume damals in Wien. Diskussionen.
Hollein auf der einen Seite, COOP Himmelblau auf der anderen Seite.
Postmoderne auf der einen Seite, COOP Himmelblau dagegen hat alles zerfetzt, dekonstruiert.
Architektur muss brennen. Architektur muss brennen
COOP HIMMELBLAU
Aber über Otto Wagner wurde nicht gestritten. Otto Wagner wurde von allen geschätzt!
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Ich danke meinem Architektenfreund für das interessante Küchengespräch über Wiener Architektur, die Architekturskizzen und das Rezept für Orecchiette con cime di rape, ein typisches Wintergericht aus Apulien. Dazu muss man natürlich einen Rotwein aus Apulien trinken. Wir haben einen Torrevento Primitivo 2011 gewählt. Das gemeinsame Kochen hat Spaß gemacht, das Essen war köstlich.
Die Architekturskizzen sind urheberrechtlich geschützt © OUTISS
Das ist ein Beitrag zur Blogparade von Anett Ring, die noch bis zum 1.März 2015 läuft.
Wir sind gespannt und freuen uns auf eure Kommentare!
Nachtrag (21.02.2015):
Leider war ich noch nie in Wien. Über Twitter habe ich das Architekturzentrum Wien @AzW_museum angefragt, ob es die Geschäfte, die Hollein in den 1960er/ 1970er Jahren entworfen hatte, heute in Wien noch gibt. Erfreulicherweise ja! Die fünf „Miniaturarchitekturen des Universalkünstlers Hollein“ im 1. Wiener Gemeindebezirk wurden unter Denkmalschutz gestellt: Zurück zur Architektur
Danke für die Info!
Hier findest du das Rezept für das apulische Wintergericht Orecchiette con cime di rape. Guten Appetit.
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