Biennale Arte 2024: Mit meinen eigenen Augen habe ich den weißen Hubschrauber gesehen, mit dem Papst Franziskus im Frauengefängnis auf der Insel Giudecca in Venedig gelandet ist. Es war am Sonntagmorgen 28.04.2024 kurz vor 8 Uhr. Ich stand auf der Ponte de la Veneta Marina gleich neben dem Hotel, in dem ich mit den Freunden der Staatsgalerie untergebracht war. Papa Francesco ist laut Programm um 6.30 in Rom gestartet und pünktlich im Casa di Reclusione Donne Venezia angekommen.
con i miei occhi – mit meinen Augen
„Mit meinen Augen habe ich einen Bund geschlossen, niemals ein Mädchen lüstern anzusehen.“ Das ist eine Textstelle aus dem Buch Hiob (31,1) und „mit meinen Augen“ ist das Motto des Beitrags des Vatikans für die 60. internationale Kunstausstellung Biennale Arte Venezia 2024.
Der Anlass des Venedig-Besuchs des Papstes war die Besichtigung der Kunstwerke im Frauengefängnis und die Begegnung mit den inhaftierten Frauen und den Künstlerinnen und Künstlern.
Kunst im Frauengefängnis
Das einzige Werk, das nur außerhalb der Haftanstalt sichtbar ist, stammt von Maurizio Cattelan. Er hat die komplette Außenfassade der Kapelle Santa Maddalena am Rio die Santa Eufemia mit einem Wandbild gestaltet. Es zeigt die Füße einer vermutlich toten Person. Assoziationen an die Gemälde von Andrea Mantegna (Beweinung Christi, 1470, Pinacoteca di Brera, Mailand) oder von Annibale Carraci (Der Leichnam Christi mit den Leidenswerkzeugen, um 1582, Staatsgalerie Stuttgart) werden wach.
Weitere Beiträge sind von der französischen Malerin Claire Tabouret und der aus Syrien stammenden Keramik-Künstlerin Simone Fattal, vom Tänzer und Choreographen Bintou Dembélé, der Pop-Art-Künstlerin Corita Kent (1918-1986), auch bekannt als Sister Corita, der brasilianischen Künstlerin Sonia Gomes und vom italienischen Filmemacher Marco Perego in Zusammenarbeit mit der Schauspielerin Zoe Saldana. Das Künstlerkollektiv Clairefontaine, von dem auch die Umsetzung des Mottos der Biennale Arte 2024 „Foreigners everywhere/ Fremde überall“ stammt, hat zwei Neonarbeiten im Gefängnis installiert.
Anmeldung erforderlich
Ein spontaner Besuch des Ausstellungsortes ist unmöglich. Eine Anmeldung ist zwingend erforderlich. Entweder per Telefon von 9-15 Uhr im Callcenter +39 06 399 67 444 oder auf der Website COOPculture. Bei der Anmeldung muss die Nummer des Reisepasses oder Personalausweises von allen Teilnehmer:innen angegeben werden. Jeden Tag werden vier Besuchergruppen von 25 Personen eingelassen, und zwar um 11 Uhr, um 12 Uhr, um 15 Uhr und um 16 Uhr. Der Vatikan-Pavillon ist täglich außer mittwochs geöffnet.
with my eyes – mit meinen Augen
Bei meiner Preview der Biennale ein paar Tage zuvor hatte ich das Glück, einen der begehrten Plätze für eine Führung im Frauengefängnis zu ergattern. Ich wusste natürlich nicht, was mich erwartet. Ich war pünktlich zum Termin da, musste meinen Personalausweis an der Pforte abgeben und meine Tasche einschließen. Man darf nichts mitnehmen, kein Foto, kein Handy, keine Taschen, Rucksäcke, etc. Fotografieren im Innern streng verboten.
Der Einlass begann nicht pünktlich. Wir mussten noch über eine halbe Stunde vor dem Eingang warten … es gab irgendwelche Schwierigkeiten. Es regnete, aber die Spannung stieg an und ich kam in ein interessantes Gespräch mit der britischen Journalistin Joanna Moorhead, die eigens ihren Rückflug verschoben hatte, um diesen Termin wahrzunehmen.
Endlich geht es los. Mitarbeiterinnen der Polizia Penitenziaria – natürlich in Uniform – und mit großen Schlüsselbunden begleiten die Besuchergruppe. Türen gehen auf, Türen werden wieder abgeschlossen. Der erste Beitrag, den wir sehen, ist von Claire Tabouret. An der Wand hängen viele Gemälde, die vor allem Kinder zeigen. Einzelne Kinder, oder mehrere Kinder, auch Familien. Die Künstlerin suchte Kontakt zu den inhaftierten Frauen und bat sie um Fotos. Überraschend geht eine Tür auf und zwei Frauen tauchen auf. Sie sind sehr gut geschminkt und interessant gekleidet. Sie haben eine Art Überwurf oder Kittel über ihrer Alltagskleidung, der bis zu den Knöcheln reicht. Eine Hälfte ist schwarz, die andere weiß. Ich dachte sofort an Nonne und zugleich Krankenschwester. Die Frauen stellen sich nicht vor, aber übernehmen die Erklärungen zu den Kunstwerken. Sie haben jede Menge Zettel dabei, sie lesen ab, sprechen aber auch frei. „Das ist mein Sohn, als er sechs Jahre alt war. Auch ich habe der Künstlerin ein Foto zur Verfügung gestellt. Jetzt ist er zwölf. Natürlich hat die Künstlerin uns die Fotos wieder zurückgegeben.“ So erklärt uns die dunkelhaarige Frau.
Es gehört zum Konzept der Kunstausstellung „con i miei occhi“, dass die inhaftierten Frauen schon in den Prozess des Kunstschaffens einbezogen wurden. Ungefähr 20 von insgesamt 80 Frauen, die aktuell dort einsitzen, übernehmen auch die Führungen für die Besuchergruppen.
Nächste Station ist die ehemalige Kapelle Santa Maddalena. Von der Decke hängen bunte Textilarbeiten der brasilianischen Künstlerin Sonia Gomes. Sie hat Textilien der Frauen in ihre Arbeit mit einbezogen. In der Cafeteria sind Siebdrucke der US-amerikanischen Ordensfrau und Künstlerin Corita Kent (1918-1986) zu sehen.
Wir sind bei euch in der Nacht
Es geht weiter in den Innenhof des ehemaligen Frauenklosters, das schon im 12. Jahrhundert gegründet wurde. Kurz nach 1600 wurde das Kloster ein von Nonnen betriebenes Hospiz für „erlöste“ Prostituierte und gab der Straße, in der sich noch heute der Haupteingang befindet, ihren Namen: Calle delle Convertite. 1859 wurde aus dem Hospiz ein Frauengefängnis, die damals österreichische Regierung machte aus der Mutter Oberin des Klosters die Direktorin des Gefängnis.
Im Hof gibt es eine Neonarbeit des Künstlerduos Clairefontaine zu sehen. In blauen Großbuchstaben steht an der Wand: SIAMO CON VOI NELLA NOTTE. Wir sind bei euch in der Nacht. Das Kunstwerk entstand 2008 und geht auf Graffiti der 1970er Jahre zurück. In verschiedenen italienischen Städten tauchte damals der Schriftzug auf und sollte Solidarität mit politischen Gefangenen in den Gefängnissen ausdrücken. Die Neonschrift wurde schon in Florenz im Museo Novecento gezeigt. Um den Hof sind viele vergitterte Fenster, zum Teil sieht man Wäsche zum Trocknen aufgehängt. Eine Frau schaut durch das Gitter zu uns in den Hof herunter.
Aus irgendwelchen Gründen können wir nicht alle Kunstwerke sehen, die sich in den Räumen der Haftanstalt befinden. Wir werden jetzt in den Besucherraum geführt. Hier stehen einige Tische, Stühle, Raumteiler. Der Raum ist mit einem blautonigen Wandbild ausgemalt. Die Figuren ( Menschen mit Schlüsselbunden, Frauen, Kinder … ) schweben über die Wandflächen. Hier können die Frauen Besuch empfangen. Weiter geht es in den Garten mit vielen Spielgeräten. Wenn die Frauen Besuch von ihren Kindern bekommen, können Sie sich in diesem Freigelände aufhalten. Letzte Station unserer Besichtigungstour ist ein enger Filmraum. Der Film von Marco Perego mit der Schauspielerin Zoe Saldana dauert 16 Minuten und gibt uns einen fiktiven Einblick in das Leben der Frauen im Gefängnis. Wir sehen ein Mehrbettzimmer, eine Schneiderei …
Ja, wir haben eine Schneiderei, dort haben wir unsere schwarz-weißen Kittel entworfen und hergestellt, es gibt eine Wäscherei, ein Kosmetik- und Friseurstudio. Wir bauen Gemüse an und verkaufen unsere Produkte einmal in der Woche in der Calle delle Convertite.
Abschied. Die beiden Frauen werden von den Gefängnispolizistinnen wieder hinter Gittern geführt, wir verlassen das Gefängnis, bekommen unseren Pass zurück und holen unsere Taschen aus den Schließfächern.
Ein berührendes Erlebnis.
Ein unvergesslicher Besuch im Casa Reclusione Femminile Venezia. Danke.
Papstbesuch: Der Wunsch von Papst Franziskus war, alle inhaftierten Frauen und Gefängnispolizistinnen persönlich zu begrüßen: Wortlaut der Papstrede im Frauengefängnis
Anschließend traf er in der Magdalenen-Kapelle den Kommissar des vatikanischen Beitrags Kardinal José Tolentino de Mendonça, die Kuratoren Chiara Parisi und Bruno Racine und die Künstlerinnen und Künstler.
Bei seiner Rede an die Künstler sagte Papst Franziskus:
… und dabei möchte ich von hier aus allen die folgende Botschaft übermitteln: Die Welt braucht Künstler. … Ich gestehe Ihnen, dass ich mich neben Ihnen nicht wie ein Fremder fühle: Ich fühle mich zu Hause. Und ich denke, das gilt eigentlich für jeden Menschen: die Kunst hat schließlich in jeder Hinsicht den Status einer „Stadt der Zuflucht“, einer Stadt, die sich dem Regime der Gewalt und der Diskriminierung widersetzt, um Formen menschlicher Zugehörigkeit zu schaffen, die in der Lage sind, alle anzuerkennen, einzubeziehen, zu schützen und alle zu umarmen. Alle, angefangen bei den Letzten.
Papst Franziskus nimmt auch Bezug zum Motto der diesjährigen Biennale Arte Venezia „Stranieri ovunque – Foreigners everywhere – Fremde überall“:
„Stellt euch Städte vor, die es auf der Landkarte noch nicht gibt; Städte, in denen kein Mensch als Fremder betrachtet wird.“
Quelle: 28.04.2024 vaticannews – Übersetzung Silvia Kritzenberger
Highlights des Besuchs von Papst Franziskus in Venedig 28.04.2024
Interessant? Hier steht Dir der Beitrag zum Download zur Verfügung: Premio ENIT 2024 Biennale Arte 2024: Mit meinen Augen | Kunst und Reisen
Dieser Blogbeitrag wird eingereicht für den Premio ENIT Medienpreis Wettbewerb 2024.
Drückt mir die Daumen und schreibt mir bitte einen Kommentar 🙂 Andrea
Vielen Dank liebe Andrea für den tollen und spannenden Block. Ich freue mich schon sehr auf Venedig und hoffe dass ich Tickets ergattern kann.
Liebe Andrea,
es ist beeindruckend, was Du immer wieder entdeckst. Was für ein besonderer Augenblick, dass du gerade jetzt in Venedig bist. Ich freue mich auf den Besuch der Biennale. Vielleicht haben wir Glück und wir können die Ausstellung im Frauengefängnis auch besuchen.