Was ist für dich Kultur?
Diese Frage stellt Tanja Praske in ihrer neuen Blogparade #kultdef
Ich könnte einfach sagen: Kultur ist mein Lebenselixir.
Dann wäre ich schnell fertig und hätte meinen Beitrag auch bis zum 30.06.2015 veröffentlichen können.
Da mich Tanjas Einladung zur Blogparade Ende Mai aber auf einer Gartenreise durch die Toskana und Umbrien erreicht hat, möchte ich etwas ausholen und euch eine Geschichte erzählen, die leider erst heute fertig wird. Meine Antwort ist:
Kultur ist der Campanile von Florenz
Toskana: Florenz um 1300
Florenz um 1300 war eine der größten und bedeutendsten Städte Europas. Ungefähr 100 000 Einwohner hatte die Stadt zu dieser Zeit. Überall gab es Baustellen! Großbaustellen! Die mächtigen Zünfte hatten die Macht übernommen und ließen einen neuen wehrhaften Kommunalpalast errichten, den Palazzo della Signoria, heute Palazzo Vecchio. Die Domenikaner hatten ihre neue Kirche Santa Maria Novella schon Mitte des 13. Jahrhundert in Angriff genommen. Jetzt legten die Franziskaner den Grundstein für ihre Heilig-Kreuz-Kirche. Santa Croce ist bis heute die größte Kirche des Bettelordens. Natürlich musste die neue Kathedrale noch größer werden! Sie sollte alle Kirchen in den Schatten stellen. Arnolfo di Cambio hatte ihren Grundriss entworfen, nach seinem Tod übernahmen andere Baumeister die Bauleitung. Santa Maria del Fiore sollte dem Namen der Stadt Florentia und der Schutzpatronin Maria alle Ehre machen, eine Blume war die Idee für den Grundriss der Kirche! Das Langhaus der Stiel, der Chor mit einem Kapellenkranz die Blüte der Blume. Damit hatten die Baumeister am Anfang des 14. Jahrhunderts ein Problem geschaffen, das erst Filippo Brunelleschi gut 100 Jahre später lösen konnte! Die berühmte Kuppel von Santa Maria del Fiore, Wahrzeichen von Florenz, wird den Dombau im 15. Jahrhundert abschließen.
Der Campanile von Florenz
Lange bevor die Kuppel gebaut wurde, war der Campanile schon fertiggestellt. Wie Giorgio Vasari in seinen Künstlerviten berichtet, soll Giotto den Entwurf für Bau und Dekoration des Glockenturms gemacht haben. Im Dommuseum von Siena hat sich eine große kolorierte Zeichnung (209 cm hoch ) auf Pergamentpapier erhalten, die im 19. Jahrhundert dem Künstler Giotto zugeschrieben wurde.
Übrigens: Die italienische Firma Ferrero hat 1996 Zeichnung und Künstlername Giotto benützt für die Markteinführung einer neuen Süßigkeit! Die Waffelkugel mit Haselnussstückchen verpackt in einer Pergamentpapierstange! Schaut euch beim nächsten Mal die Verpackung von „Giotto“ genau an, vielleicht entdeckt ihr die Zeichnung des Campanile von Florenz.
Nach der Pestkatastrophe 1348 hat der Baumeister Francesco Talenti die Bauleitung übernommen. 1384 setzte man das Dach auf den 82 m hohen Glockenturm. Er gilt als der schönste Kirchturm in Italien. Der Bau von Kathedrale und Glockenturm war Ausdruck vom Bürgerstolz der Stadt. Keine Kirche zu der Zeit war größer, kein Kirchturm höher.
Das Besondere an diesem Campanile, deshalb erzähle ich euch hier davon, ist das Bildprogramm in den ersten beiden Geschossen. Inhaltlich geplant wurde es vermutlich von den Dominikanern von Santa Maria Novella, ausgeführt haben die Reliefs Andrea Pisano, der auch die erste Bronzetür des Baptisteriums geschaffen hatte, und sein Nachfolger Nino Pisano. Allerdings wurden die beiden Bildhauer in ihrer Lebenszeit mit der großen Aufgabe nicht fertig. Erst Donatello und sein Schüler Nanni di Bartolo haben die Reihe der Propheten zwischen 1420 und 1435 vervollständigt, Luca della Robbia hat die letzten Reliefs der Sockelzone geschaffen. So wurde die künstlerische Ausstattung des Campanile ungefähr zeitgleich fertig mit der Kuppel des Domes.
Das Bildprogramm des Campanile von Florenz
Die besten Künstler der Zeit haben daran gearbeitet, das Bildprogramm gibt die Ideen der mittelalterlichen Scholastik wieder. Hier wird erklärt, was Kultur um 1300 ist!
Die Sechseckreliefs der Sockelzone
Natürlich beginnt die Erklärung der Welt mit Adam und Eva! Wir lesen die Bilder der Reliefs wie in einem Buch, von links nach rechts. Die Geschichte beginnt an der Westseite ( parallel zur Domfassade ) mit der Erschaffung Adams und der Erschaffung Evas. Die ersten Menschen haben das Paradies verspielt, sie müssen jetzt arbeiten. Damit beginnt die kulturelle Tätigkeit! ( Barbra Streusand hat im Opernblog in ihrem Beitrag für Tanjas Blogparade schon darauf hingewiesen, dass das Wort „Kultur“ vom lateinischen „cultura“ d.h. „Bearbeitung, Pflege, Ackerbau“ stammt. ) Das dritte Relief zeigt also Adam und Eva nach der Vertreibung aus dem Paradies bei der Landarbeit. Danach kommt der erste Viehzüchter und das Hirtenleben, die Musik, der erste Schmied und Noah als der erste Weingärtner.
Die Südseite zeigt den ersten Astronom, Hausbau, Medizin, Jagd, Weberei, den ersten Richter für die Gesetzgebung und Dädalus, der für sich und seinen Sohn Flügel baute, als ersten Kunsthandwerker.
Die Ostseite zeigt die Schifffahrt, Herkules, Ackerbau, ein Wagenrennen und die Architektur.
Auf der Nordseite werden dargestellt: die Bildhauerei, die Malerei, Grammatik, Logik und Dialektik, Poesie, Geometrie und Arithmetik und die Harmonie.
Was ist Kultur?
Der Campanile von Florenz zeigt es uns.
Mit der Darstellung der kulturellen Leistungen der Menschen ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Denn damals ging man davon aus, dass das Handeln und Tun der Menschen von höheren Mächten beeinflusst werden. Diese Faktoren werden in der Reihe darüber in Rautenreliefs dargestellt.
Die Rautenreliefs
Im Westen werden die 7 Planeten ( Saturn, Jupiter, Mars, Sonne, Venus, Merkur, Mond ) dargestellt, im Süden 7 Tugenden ( Glaube, Liebe, Hoffnung, Klugheit, Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Stärke ) im Osten 7 freie Künste (Astronomie, Musik, Geometrie, Grammatik, Rhetorik, Logik, Arithmetik ), im Norden 7 Sakramente.
Die Planeten bestimmen den Lauf unseres Lebens, die Tugenden sollen uns stärken, die freien Künste uns bilden und die Sakramente uns segnen.
Die Nischenfiguren
Die oberste Reihe zeigt in Nischen große Statuen von Propheten, Sibyllen und Erzvätern. Sie bezeugen den Lauf der Geschichte.
Ich staune immer wieder über die komplexen Zusammenhänge von Kunst und Architektur, von Philosophie und Religion, von Politik und Gesellschaft. Allerdings erkennt man diese nur, wenn man sich Zeit nimmt und genau hinschaut. Eine Selfiestange hilft da leider nicht!
Umberto Eco hat einmal gesagt:
„Müßig zu sagen, daß alle Probleme des modernen Europa, wie wir sie heute kennen, im Mittelalter entstanden sind, von der kommunalen Demokratie bis zum Bankwesen, von den Städten bis zu den Nationalstaaten, von den neuen Technologien bis zu den Revolten der Armen: Das Mittelalter ist unsere Kindheit, zu der wir immer wieder zurückkehren müssen, um unsere Anamnese zu machen …“
Umberto Eco, Der historische Roman, in: Nachschrift zum ‚Namen der Rose‘, München 1987/ 8. Auflage, S. 85
Die Originalreliefs des Campanile werden im Dommuseum von Florenz aufbewahrt. Das Dommuseum wurde nach Renovierung am 29.10.2015 wiedereröffnet: Museo dell’Opera di Santa Maria del Fiore
Literaturtipps:
Eine ausführliche Beschreibung des Dombezirks in Florenz mit allen Bauwerken findet ihr im Reclam-Kunstführer Florenz.
Ross King beschreibt spannend die Baugeschichte der Kuppel: Das Wunder von Florenz. Architektur und Intrige. Wie die schönste Kuppel der Welt entstand …
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Liebe Andrea,
ach wie schön, darauf habe ich gerne gewartet! Vielen Dank für diesen herrlichen Nachschlag zu #KultDef. Damit haben sich 73 Blogger (äh … manche schrieben auch zwei Posts) an meiner Blogparade beteiligt.
Wir hatten das Gleichnis der Höhlenmalerei mit der Kultur, aber noch keines, dass Kunstgeschichte so direkt mit Kultur verbindet. Ja, der Campanile von Florenz ist grandios. Ja, daran waren die größten Künstler der Zeit beteiligt, also, große Aussagekraft und Spiegel der vorherrschenden Kultur.
Ein dickes Dankeschön für deinen speziellen Reisebericht!
Herzlich,
Tanja
Liebe Tanja,
großes Lob für dich, deine Idee und Einladung zur Blogparade #kultdef
Herzliche Grüsse,
Andrea
Liebe Andrea, danke für diesen wunderbaren Blog. So habe ich das noch nicht erklärt bekommen!
Liebe Grüsse aus Berlin von Brigitte
Liebe Brigitte,
es freut mich sehr, dass du meinen Blog liest.
Viele Grüsse nach Berlin,
Andrea