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Ein Paykan im Kunstmuseum

Hast Du schon mal einen Paykan gesehen? Nein?

Dann komm ins Kunstmuseum Stuttgart! Noch bis zum 3.3.2013 findest du dort in Ebene -1 einen Paykan! Ein Paykan ist ein Wagen der unteren Mittelklasse, der ab Ende der 1960er Jahre zunächst als Bausatz der englischen Firma Hillman Hunter, nach der iranischen Revolution 1979 bis 2005 dann als ein rein iranisches Fahrzeug von der staatlichen Automobilfirma Iran Khodro (IKCO) im Iran produziert wurde. Der Viertürer mit Stufenheck zählt zu den beliebtesten Automarken im Iran und ist dennoch außerhalb des Landes kaum bekannt.


Wie kommt der Paykan mit einem iranischen Kennzeichen nun nach Stuttgart?

Ganz einfach!
Die Künstlerin Anahita Razmi (geboren 1981 in Hamburg) hat den Wagen in Teheran gekauft und von dort über Oldenburg nach Stuttgart gefahren, eine Strecke von über 5000 km.

Mit dem Paykan von Teheran nach Stuttgart

So einfach war dieses Kunstprojekt allerdings doch nicht! Davon zeugen eine Auswahl von 38 Dokumenten, die gerahmt an der Wand hängen: ein Fragebogen für die Führerscheinprüfung, Kopien der Reisepässe mit Visaeinträgen, Passbilder mit und ohne Kopftuch, Schriftverkehr mit Behörden in Deutschland, im Iran, mit Transitländern, Zollgebühren, etc. Niemand war auf dieses Vorhaben vorbereitet, sie hat damit einen Präzedenzfall für manche Behörden geschaffen.

Wer möchte in Europa sonst ausgerechnet einen Paykan fahren?

Über einen Monat haben die Vorbereitungen im Iran gedauert. Ausschnitte aus einem über 11-stündigen Film dokumentieren die lange Reise vom Herkunftsland des Vaters der Künstlerin bis nach Deutschland. Videostills des ungewöhnlichen Roadmovies kannst du auf www.anahitarazmi.de finden. Bis zur Grenzüberschreitung musste die Künstlerin mit Kopftuch auf dem Beifahrersitz sitzen. So stellt man sich als Betrachter Fragen: Dürfen Frauen im Iran Auto fahren?
Zur Realisierung dieses Paykan-Projektes hatte Anahita Razmi ein Stipendium des Edith-Russ-Hauses für Medienkunst in Oldenburg bekommen.

Oliver Rosenthal interviewte die Künstlerin Anahita Razmi am 3.2.2011:

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White Wall Tehran, 2007

Eine andere Videoarbeit der Künstlerin, die 2007 bis 2009 für ein Aufbaustudium Freie Kunst an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste bei Christian Jankowski und Rainer Ganahl in Stuttgart war, ist „White Wall Tehran, 2007“. Sie war damals als Touristin in Teheran unterwegs und filmte. Dabei wurde sie von iranischen Revolutionsgardisten aufgegriffen und in deren Zentrale gebracht. Dort überspielten sie 27 Sekunden ihres Videofilms, indem sie die Kamera auf die weiße Wand des Raumes richteten. Diese Bilder, die Leerstelle ihres Films, sind zu sehen verbunden mit den banalen Hintergrundgeräuschen des Büroraumes.

In ihren künstlerischen Arbeiten setzt sich die Künstlerin immer wieder mit dem Iran auseinander.

Da sie in Deutschland aufgewachsen ist, sieht sie sich selbst als eine Fremde, aber auch als „jemand, der außen steht, aber sich gleichzeitig in einer nicht definierten Relation zu dieser Fremde befindet.“ (zitiert nach Heinz Höfchen, Museum Pfalzgalerie Kaiserlautern).

Grenzüberschreitungen wagen
, das scheint typisch für Anahita Razmi zu sein. Sie überwindet nicht nur die staatlichen Grenzen vom Iran bis in die Bundesrepublik in ihrem Paykan-Projekt, sie lotet auch immer wieder kulturelle Unterschiede zwischen Ost und West, Nord und Süd aus.

Auch in ihrer jüngsten Videoarbeit „Arsenal, 2012“ geht es um Kulturtransfer: man sieht die Künstlerin in Großaufnahme, wie sie in Endlosschleife Rauchwolken ausatmet. Was sie raucht, ist nicht zu erkennen.

Erst wenn man sich an die Dunkelheit des Filmraums gewöhnt hat, kann man schwarz gefärbte Wasserpfeifen vor der Leinwand erkennen. Die Filmbilder des Videos sind stark verlangsamt, doch die unterlegte Filmmusik aus Hollywoodfilmen suggeriert einen Spannungsbogen, der sich durch die Bilder nicht einstellt. Obwohl der Titel der Installation „Arsenal“ Assoziationen an Waffen hervorrufen könnte, sind eben keine „rauchenden Colts“ zu sehen. „Viel Rauch um Nichts“ könnte man sagen. Aber so einfach ist auch dieses Kunstprojekt nicht.

Mich interessierte, ob Frauen im Iran in der Öffentlichkeit Wasserpfeifen rauchen können.

Bei meiner Recherche bin ich auf  den Verein  Transparency for Iran (TFI) gestossen:
Zweck des Vereines ist die Unterstützung von Menschenrechten und Pressefreiheit, die Schaffung von Transparenz bei politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Iran sowie die Sensibilisierung der deutschen Öffentlichkeit für diese Themen.“

Auf der Website des Vereins berichtet Mahindokht Mesbah im Artikel „Die Wasserpfeife als Zankapfel“ am 07. Dezember 2011, dass „Polizei und konservativ-religiöse Interessenvertreter meinen, dass das Rauchen der Wasserpfeife in der Öffentlichkeit sittenwidrig und ein Symbol für Protest und Widerstand gegen islamische Werte sei“, nicht nur für Frauen!

Obwohl die Wasserpfeife seit Jahrhunderten zur iranischen Kultur und Tradition gehört, ist das Shisha-Rauchen an allen öffentlichen Orten laut Gesetz seit 2006 im Iran verboten. Ausnahmen davon gibt es wohl für traditionelle Teehäuser, deren Existenz davon abhängt.

Damit wird deutlich: Anahita Razmi schafft mit ihren Kunstwerken nicht nur interessante und eindringliche Bilder, sondern sie bricht gesellschaftliche Tabus und ist viel politischer und subversiver, als es auf den ersten Blick scheint! Ich rate euch, hingehen!

Begleitend zur Ausstellung „Frischzelle_17: Anahita Razmi“ ist ein Katalogheft erschienen, das in Zusammenarbeit mit der Künstlerin entstanden ist. Ihr könnt es an der Kasse im Kunstmuseum zum Preis von 5 € kaufen.

 

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2 Gedanken zu “Ein Paykan im Kunstmuseum

  1. abrazo35 sagt:

    …Wer möchte in Europa sonst ausgerechnet einen Paykan fahren?

    Ich !!!
    Italiener und mit einer Iranerin
    verheiratet.

    ich war (schon) 2x im Iran. Das 2te
    Mal „verliebte ich mich in einem „Vanett“, eine limousine tut es auch!

    Wie könnte ich das hinbekommen und wieviel würde mich das ca. kosten???

    1. Andrea Welz sagt:

      Hi! Zum Autokauf kann ich dir leider keine Tipps geben! Der Paykan, den die deutsch-iranische Künstlerin Anahita Razmi nach Deutschland gebracht hat, ist Bestandteil des Kunstprojekts und ist nicht vom deutschen TÜV für den Straßenverkehr zugelassen! Die Präsentation im Kunstmuseum Stuttgart zeigte, dass der Kauf des Wagens in Teheran extrem schwierig war! Ein enormer Schriftwechsel mit vielen Behörden war notwendig, um den Paykan ausführen zu können! Ob du das wiederholen kannst? Gib mir Bescheid, wenn dir das gelingt!

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